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Dr. Clara Kühner

Klimaverzögerungsdiskurse

Die Klimakrise ist eine existentielle Bedrohung für die Gesundheit der Erde und der Menschheit. Um den Klimawandel einzudämmen, ist die sofortige Umsetzung von effektivem Klimaschutz notwendig. Allerdings reichen die bisher ergriffenen Maßnahmen bei weitem nicht aus, um das im Pariser Klimaschutzabkommen vereinbarte Ziel von maximal 1,5 Grad Erwärmung zu erreichen, wie der neueste Bericht des International Panel on Climate Change (IPCC) zuletzt bestätigte.


Die Gründe für die mangelnde Umsetzung von effektivem Klimaschutz sind vielfältig. Auf gesellschaftlicher und politischer Ebene führen so genannte Klimaverzögerungsdiskurse dazu, dass wirksamer Klimaschutz verhindert oder zumindest verzögert wird. Gesellschaftliche Akteur:innen (z.B. Politiker:innen, Wirtschaftsführer:innen), die solche Klimaverzögerungsdiskurse anführen, gehören nicht zur Gruppe der Klimawandelleugner:innen oder -skeptiker:innen. Vielmehr stehen sie Klimaschutz zwar grundsätzlich offen gegenüber, tragen aber mit ihren Argumenten dazu bei, dass die politische und öffentliche Unterstützung für ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen unterminiert und damit wirksamer Klimaschutz blockiert oder hinausgezögert wird.


Ein internationales Forscher:innenteam hat diese Klimaverzögerungsdiskurse im Rahmen einer breit angelegten Studie erfasst und systematisiert. Konkret wurden politische Kommentare, insbesondere zu energie- und klimapolitischen Gesetzesentwürfen im US-Bundesstaat Massachusetts zwischen 2013 und 2018, sowie Medienerzeugnisse zu klimapolitischen Gesetzentwürfen in Deutschland, Großbritannien, Norwegen und den USA ausgewertet. Das Ergebnis ist eine Typologie mit 12 Klimaverzögerungsdiskursen, die sich in vier Kategorien einordnen lassen (siehe Grafik 1).


Die gängigen Klimaverzögerungsdiskurse erkennen und einordnen zu können, ist aus mehrlei Hinsicht wichtig und hilfreich. Zum einen kann die Reflektion der Vezögerungsdiskurse verhindern, dass man sich diesen, vielleicht auch unbewusst, anschließt. Stattdessen kann man sich darauf fokussieren, welche Möglichkeiten für wirksames Klimahandeln im eigenen Gestaltungsspielraum zu bedienen sind und wie auch auf gesellschaftlicher Ebene (z.B. durch Engagement am Arbeitsplatz oder in der Politik) Einfluss auf wirksame Klimapolitik genommen werden kann. Zum anderen hilft ein Verständnis für die Klimaverzögerungsdiskurse auch dabei, Aussagen von gesellschaftlichen Akteur:innen (z.B. Politiker:innen oder Wirtschaftsführer:innen) kritisch zu hinterfragen, hinsichtlich ihrer Bedeutung für wirksamen Klimaschutz zu bewerten und gegebenenfalls zu entkräften.


Grafik 1. Typologie der Klimaverzögerungsdiskurse (basierend auf Lamb et al., 2020; Levi et al., 2021)

© Dr. Clara Kühner, 2023


 

Kategorie 1: Nachteile betonen


Verzögerungsdiskurse dieser Kategorie basieren darauf, kurzfristige Nachteile wirksamer Klimaschutzpolitik im Hier und Jetzt zu betonen und damit ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen abzuwehren. Gleichzeitig werden langfristige Vorteile und Potentiale von Klimaschutz vernachlässigt und die katastrophalen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von mangelndem Klimaschutz ignoriert.


Soziale Gerechtigkeit. Hierbei werden kurzfristige und potentiell negative soziale Folgen von Klimaschutzmaßnahmen hervorgehoben und als Argument genutzt, um Klimaschutzgesetze zu verzögern oder zu blockieren. Dazu gehören zum Beispiel die Betonung von Arbeitsplatzverlusten in der Automobil- oder fossilen Industrie oder unverhältnismäßige finanzielle Belastungen durch umweltbezogene Steuerabgaben (z.B. Flugsteuer), insbesondere für Personen mit niedrigem Einkommen. Dies sind legitime Einwände und die sozialen Belastungen der nachhaltigen Transformation sollten stets mitgedacht und so gering wie möglich gehalten werden. Gleichzeitig dürfen solche Argumente nicht genutzt werden, um wirksamen Klimaschutz zu verhindern, denn erfolgreicher Klimaschutz geht langfristig mit einer höheren sozialen Gerechtigkeit einher, zum Beispiel durch eine Verbesserung der Luftqualität in Ballungsräumen und die Schaffung von Arbeitsplätzen in zukunftssicheren Branchen.


Wohlstandsverlust. Hierbei wird argumentiert, Klimaschutzmaßnahmen gefährdeten den wirtschaftlichen Wohlstand und führten zu Einbußen in Lebensstandard und -qualität. Dies geht häufig mit der Annahme einher, fossile Energieträger bildeten die Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs und Wohlstands und wären zentral, um Armut zu reduzieren. Sollte die Nutzung fossiler Energieträger im Sinne des Klimaschutzes drastisch reduziert werden, würde dies unweigerlich zu wirtschaftlichen Einbrüchen und in der Folge Wohlstandsverlust führen. Vernachlässigt wird hierbei, dass ausbleibender Klimaschutz die Wirtschaft und den Wohlstand noch in einem viel größeren Maße negativ beeinflussen wird. Beispielsweise können durch den Klimawandel häufiger auftretende Wetterextreme (z.B. Überschwemmungen, Dürren) den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes extrem gefährden.


Politischer Perfektionismus. Das Resultat der oben beschriebenen Bedenken ist die Auffassung, dass Klimaschutzpolitik nur äußerst vorsichtig und nicht zu ehrgeizig betrieben werden darf, um die öffentliche Unterstützung nicht zu verlieren und den sozialen Frieden zu wahren. Daher wird gewartet, bis politische Maßnahmen entwickelt wurden, die von allen betroffenen Parteien und der breiten Öffentlichkeit getragen werden. Das Ansinnen, eine möglichst breite Masse der Bevölkerung für Klimaschutz zu gewinnen und Konzepte vorzuschlagen, die durch einen überparteilichen Konsens getragen werden, ist durchaus berechtigt. Es wird allerdings in dem Moment zu einer Verzögerungstaktik, indem ambitionierte Klimaschutzgesetze abgelehnt werden, anstatt um Unterstützung und Konsens für ehrgeizigen Klimaschutz zu werben.


 

Kategorie 2: Verantwortung weitergeben


Der Kern dieser Dimension ist es, die Verantwortung für die Entstehung sowie die Bekämpfung der Klimakrise auf andere Entitäten, wie beispielsweise andere Staaten, Unternehmen oder Individuen, abzuwälzen. Durch die abgeschobene Verantwortung scheint eigenes Klimaschutzhandeln unnötig und somit werden Klimaschutzmaßnahmen verzögert.


Individualismus. Eine häufige Strategie dieser Kategorie ist die Abwälzung der Verantwortung für Klimaschutz auf Individuen. Der/Die individuelle Verbraucher:in, so die Argumentation, ist allein dafür verantwortlich, seinen/ihren CO2-Fußabdruck möglichst gering zu halten (z.B. durch entsprechende Konsum- und Mobilitätsentscheidungen). Auch wenn Verhaltensänderungen auf individueller Ebene für erfolgreichen Klimaschutz nötig sind, vernachlässigt diese Argumentation die Rolle von Unternehmen, die mit ihren Entscheidungen, Angeboten und Werbemaßnahmen das individuelle Verhalten maßgeblich beeinflussen. Dieser Verzögerungsdiskurs verschleiert somit die Verantwortung für Klimaschutz auf systemischer Ebene.


Whataboutism. Diskurse dieser Strategie, die auch als das „Aber China“-Argument bekannt ist, betonen, dass andere, insbesondere andere Staaten, weitaus mehr Treibhausgasemissionen produzieren und dadurch eine deutlich größere Verantwortung tragen, in der Klimakrise tätig zu werden. Diese Art der Verantwortungsverschiebung funktioniert auch zwischen verschiedenen Industriezweigen, wenn beispielsweise Vertreter:innen der Automobilindustrie auf die hohen Treibhausgasemissionen des Landwirtschaftssektors verweisen und dadurch das Ausbleiben eigener Maßnahmen rechtfertigen. Für erfolgreichen Klimaschutz ist jedoch das gleichzeitige Handeln vielfältiger globaler und regionaler Akteure notwendig.


Trittbrettfahrer-Effekt. Mit der Frage nach Verantwortung geht auch das Argument einher, Personen, Industrien und Länder würden andere, die bereits Klimaschutz betreiben, ausnutzen. So lange im Klimaschutz nicht alle an einem Strang zögen, würden manche nicht mitmachen und sich so Vorteile verschaffen. Das Resultat einer solchen Argumentation ist ein „Wettlauf nach unten“.



Grafik 2. Comic zu Klimaverzögerungsdiskursen

(Quelle: https://www.leolinne.com/?portfolio=discourses-of-climate-delay)

 


Kategorie 3: Auf Scheinlösungen verweisen


Die Bekämpfung der Klimakrise und der Weg in eine nachhaltige Zukunft erfordern teils erhebliche Transformationen in verschiedenen Lebensbereichen. Im Rahmen der dritten Kategorie der Klimaverzögerungsdiskurse wird auf Scheinlösungen verwiesen, die keinen effektiven Beitrag zum Klimaschutz leisten, sondern die Möglichkeit eines Weiterlebens ohne tiefgreifende Transformationen vortäuschen. Dies lenkt von tatsächlich wirksamen Maßnahmen ab und trägt damit zur Verzögerung von Klimaschutz bei.


Technologiegläubigkeit. Ein Beispiel dieses Argumentationsmusters ist der Verweis auf technologische Innovationen und Fortschritte, die automatisch zu Emissionseinsparungen führen werden, ohne dass eine Transformation der Lebensweise oder des Wirtschaftssystems notwendig ist. Auch wenn technologische Neuerungen, gerade im Bereich der erneuerbaren Energien, zentrale Säulen im Klimaschutz sind, werden sie allein nicht zu Emissionsreduktionen im notwendigen Ausmaß führen. Darüber hinaus wird in diesem Rahmen häufig auf „technische Mythen“ verwiesen, die entweder eine mangelhafte wissenschaftliche Absicherung haben oder in ihrer Entwicklung so unausgereift sind, dass ein baldiger Einsatz nicht realistisch ist (z.B. emissionsfreies Fliegen, Kernenergie und Rückholung von Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre).


Brückentechnologismus. Kern dieses Verzögerungsdiskurses ist die Aussage, die fossile Energieindustrie wäre Teil der Lösung im Klimaschutz. Dazu gehören Kampagnen, die „grüne“ oder „saubere“ fossile Energien bewerben. Dies steht jedoch im Gegensatz zu Erkenntnissen, dass neue fossile Infrastrukturen unvereinbar mit dem im Pariser Klimaschutzabkommen formulierten 1,5 Grad-Ziel maximaler Erwärmung sind.


Reden statt Handeln. Eine weitere Strategie, wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu verzögern ist es, ambitionierte und langfristige Klimaschutzziele zu setzen, ohne die dazugehörigen Instrumente und Maßnahmen zu definieren. Durch diese Strategie kann beispielsweise ein Land oder eine Partei den Eindruck erwecken, eine führende Rolle im Klimaschutz einzunehmen, ohne dass tatsächlich konkrete Schritte zur erfolgreichen Umsetzung ergriffen werden müssen.


Fördern statt Fordern. Im Rahmen dieses Verzögerungsdiskurses werden freiwillige Klimaschutzmaßnahmen betont („fördern“). Eine Debatte über restriktivere (aber tendenziell wirksamere) Maßnahmen wie Umweltsteuern oder Vielfliegerabgaben („fordern“) wird abgeblockt, da diese als zu großer Eingriff und Belastung für die Bevölkerung angesehen werden. Wenngleich die Förderung freiwilligen klimafreundlichen Verhaltens wichtig ist (z.B. Ausbau und Vergünstigung des deutschen Bahnangebots, um Inlandsflüge zu reduzieren), so wird dies ohne zusätzliche Restriktionen nicht schnell und wirksam genug zu Verhaltensänderungen führen.



 

Kategorie 4: Kapitulieren


Klimaschutz wird auch durch Diskurse verzögert, die die Umsetzung effektiver Klimaschutzmaßnahmen als unmöglich und unrealistisch in Frage stellen. Häufig wird hier auf unüberwindbare politische, soziale und biophysikalische Hürden verwiesen.


Veränderung ist unmöglich. Bei dieser Strategie wird argumentiert, dass ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen und damit einhergehende Veränderungen im Gegensatz zur menschlichen Natur stehen und im aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht umsetzbar sind. Der Gesellschaft wird somit die Fähigkeit zur nachhaltigen Transformation abgesprochen. Anstatt nach Lösungen für zweifelsohne herausfordernde Aufgaben zu suchen, wird vorgeschlagen, aufzugeben oder sich lediglich auf die Anpassung an den Klimawandel zu fokussieren. Durch diese Debatte wird ambitionierter Klimaschutz verzögert und minimale Interventionen ohne tatsächliche Wirkung werden propagiert.


Untergangsszenario. Im Rahmen der letzten Strategie wird argumentiert, nichts könne (und müsse) mehr getan werden, da die Klimakatastrophe ohnehin nicht mehr aufzuhalten und die Menschheit damit verloren sei. Solche Aussagen können Schock und Resignation auslösen und dadurch die Handlungsfähigkeit einschränken.


Was können wir als Team tun?


Eine mögliche Teamübung bezogen auf die Klimaverzögerungsidiskurse ist es, gemeinsam zu reflektieren, welche Klimaverzögerungsdiskurse im Rahmen des eigenen Teams beziehungsweise des eigenen Unternehmens bereits erlebt wurden, wie darauf aufmerksam gemacht werden könnte und wie konstruktiv damit umzugehen ist, um als Organisation einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.


 

Zum Nachlesen


Wer sich weiter mit Klimaverzögerungsdiskursen auseinandersetzen möchte und sich für konkrete Beispiele für die einzelnen Strategien interessiert, kann auf diese Quellen zurückgreifen:



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